Vassilingalou – Die Frage

CURACAO

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Meine Gedanken schießen zurück in die Zeit unseres ersten Sommersemesters an
der Theaterakademie. Wir proben verschwitzt und lautstark ums Leben. Die offenen Fenster laden noch mehr Hitze zur Party ein, die ganze Straße hallt zum millionsten Mal ein und dasselbe Musikstück zurück, bis jede unserer Bewegungen sitzt, bis die Trance eingesetzt hat. Plötzlich fliegt die schwere Tür unseres Proberaums auf und eine ältere, dürre Frau erscheint im dunklen Rahmen. Jemand knipst die Musik aus. Ihre Stimme schneidet die Luft mit der Entschlossenheit zerreißenden Stoffes: „Wer braucht euch?!“ Es scheint, sie erwartet eine Antwort auf deren Suche wir ein Leben lang sein werden. „Wer braucht euch?!“, meißelt sie nochmals. „Wer braucht euch?!“, ein letztes Mal für Schwerhörige. Ich wette, keiner von uns eintausend und sechs Kandidaten für die begehrten achtzehn Studienplätze hat sich genau diese Frage gestellt. Auch keiner von uns achtzehn harmlosen Auserwählten der Musen. Dreißig Jahre ist es her.

Die Straße schlängelt sich durch haushohe Kakteen, Staub und huschende Leguane. Ab und zu ein Beschwerde-lauter Papageienschwarm, sonst jahrzehnte alte Hitze. Die geliehene rote Kiste stottert von Loch zu Loch und bringt unsere klebrigen Körper Kurve um Kurve zum Meer.

Da ist es. Endlos, eingefroren in seinem Tintenblau, mit den Wutkrönchen drauf. Esbreitet gleichgültig seine Schönheit vor unseren gierigen Augen aus. Ein paar Löcher mehr, ein zerfallener Kreisel, die fensterlosen Leiber großer Häuser, Zeugen eines längst gestorbenen Traumes von zahlungswilligen Touristen. Ein ganzes Dorf samt Kirche, Strandbuden, Kasino und Pissoire, Bassin und Cocktail-Terassen stirbt still und unbedeutend vor sich hin. Nur die trockenen Dornen-Büsche mit ihren traumhaften feurigen Blüten aller roten Farben wollen diesem paradiesischen Friedhof eine letzte Ehre erweisen.

Eine kühle Brise verirrt sich ab und zu zwischen den Graffiti-beschmierten Kolonnen des ehemaligen Restaurants – unsere Herberge, bis die Sonne nachlässt. Wir essen „Arme Ritter“, trinken Joghurt und spielen namenlose Spiele mit der jüngsten von uns. Die anderthalbjährige Malou. Durch sie machen wir wieder Bekanntschaft mit jeder Kachel und jedem Kiesel. Durch sie finden wir wieder unsere Begeisterung für Dinge, die wir längst im Schrank der Selbstverständlichkeit eingeräumt hatten.

Ein paar Meter von uns, im Schatten von Regen vergessener Sträucher, liegen zerstreut etwa zwei dutzend Soldaten. Man erkennt es nur am Militärfahrzeug, das in der Nähe parkt. Sonst ist ihre helle Haut ganz wie die unsere und ihr Spaß am Seewasser mindestens so groß wie meiner. Als die Sonnenkraft etwas nachlässt, ziehen die Soldaten ihre athletischen Körper an und beißen unter voller Montur und in Formation die Straßensteigung an. Vor Jahrzehnten war ich auch unter ihnen, so schwitze ich teilnahmsvoll mit, bis sie hinter der Kurve verschwinden.
Bald vergessen wir sie, denn der Strand gehört jetzt Malou. Im nassen Sand bleiben tausend winzige Fußspuren zurück und wir müssen mit den Wellen wetteifern, sie in Erinnerung zu behalten. Spielen. Das natürlichste auf der Welt. Bald sind wir nur noch Kinder im Paradies. Verschnauft und Sand verklebt, glücklich und unbekümmert. Dankbar über die Güte des Lebens.

Malou, die gerade große Sandklöße ins Wasser schmeißt, zuckt am ganzen Körper bei den ersten Schüssen. Weitere folgen und vermehren sich bedrohlich in den leeren Korridoren der verlassenen Hotels über unseren Köpfen. Schreie und kurze Kommandos, dann wieder Schüsse. Maschinengewehre bellen im hässlichen Unisono, bis unsere Kleine, den Sand und das Meer ganz vergessend, weinend auf den Arm will. Zimmer um Zimmer erkämpfen sich die Geschosse, blühende Büsche und Leguane müssen den Rückzug antreten.

Wir packen. Duschen das Salz von der Haut und die Bitterkeit im Hals mit dem letzten Schluck Süßwasser runter. Unsere rote Blechkiste bringt uns langsam, ein Loch nach dem anderen, zurück zum Boot. Mein Kopf brummt. Zu viel Sonne vielleicht. Oder die sich aufzwingende Vorstellung, wie eine der Türen im Hotel mit Krach auffliegt und das wütende, rote Gesicht der dürren Frau den Soldaten die gleiche Frage ins Gesicht schmettert: „Wer braucht euch?!“

24.09.2015, Curacao

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