Vassilingalou – Opitz

opitz_kleinOPITZ
Die Eifel! Hier habe ich den Herbst geliebt. Die schamlose Vielfalt seiner Farben, die verschwenderische Großzügigkeit seiner Früchte. Es ist, als wenn man vorbelohnt wird für die karge, trostlose Gräue der folgenden Ewigkeit. Wegen dem Herbst bin ich geblieben. Zehn Jahre lang. Mit ihm im Herzen gehe ich weg. Damit seine Großzügigkeit ungetrübt in mir keimen kann. Ungetrübt vom Scheitern. Von alten, rostigen Partnerschaften. Von Abläufen, quietschend wie Gefängnisscharniere. Ich gehe weg. Bald!

In der Ecke der Werkstatt sehe ich eine Truhe für Schätze. Sie ist aus Kupferblech gefertigt, mit einer Wandung von drei Millimeter. Gerade bekommt sie Beschläge aus Messing, damit sie vier Männer tragen können. Sehr starke Männer. Herr Zeihen, der Schmied vom Nachbardorf, Scharfauge wie er ist, merkt meine Verwunderung. Er spricht immer sehr langsam, viel langsamer als man sich langsames Sprechen vorstellt: „Sie gehört dem Opitz, der ist zur See gefahren.“ Und nach einer Pause, als wenn ihn der Satz ermüdet hat: „Wie Sie“. Die Neugier packt mich mit ihrer Steuermann Faust.

An diesem Ende ist das Dorf still und feucht. Es schlummert unter seinem dicken Moos Plumeau. Ich stehe vor einem schweren Haus. Tief verwurzelt in den Waldboden, halb versunken im Gerümpelmoor. Scheinbar unbewohnt, oder nach hiesigem Standard, kläglich vernachlässigt. Beim Bau hat der Eigner gewusst, dass eines Tages alles durch seine massive und brutale Qualität für sich selbst sorgen muss. Hier wohnt er also, der Schatztruhenbesitzer. Wenn er da ist. Ich hinterlasse eine gekritzelte Nachricht. Am Wochenende ruft er zurück und klingt gleichgültig und sachlich. Ist mir recht, wir verabreden uns.

Etwa Teezeit. Kaum um die Hausecke gebogen, bleibe ich abrupt stehen. Ein Mann sitzt unter freiem Himmel hinter einer kleinen Maschine und schärft Ketten für Sägen. Dutzende. Er arbeitet konzentriert und rhythmisch. Er hört meine Schritte im Moos nicht und ich kann eine Weile seinen geschickten Bewegungen zuschauen. Als er mich bemerkt, schleift er die angefangene Kette erst zu Ende und schaltet dann die Maschine aus. Er richtet sich auf.

Was einen „Mann“ ausmacht weiß ich nicht, aber ein Kapitän strahlt Autorität aus. Unter diesem hier, könnten Leoparden freiwillig dienen. Als wenn Zeus selbst sich vor mich aufgebaut hätte. Massive stramme und breite eins neunzig, oder mehr. Weiße, kurze und dichte Kringelhaare und Vollbart. Und Augen so klar und tiefblau wie der Passat-Himmel. „Opitz“ brummt er, geht vor mir ins Haus und streift seine vermatschten Stiefel nicht ab. Im Flur und auf dem breiten Treppenhaus gibt es nur eine schmale Spur in der man laufen kann. Sie verläuft zwischen atemberaubenden Kunstwerken aus der ganzen Welt, professionellen Werkzeugen diverser Berufe in vernachlässigtem Zustand und sonst – Dreck. Die Wände aller Räume, die ich durchstreife, sind mit scheinbar hunderten von Wanduhren behängt. Ich hätte nicht gewusst, dass so viele hergestellt worden sind. Mechanisch ticken, klicken und knurren sie ein unnachahmliches Gemüt zusammen. Es ist ein Lied, das ständig da ist und so schnell außer Acht gerät. Das Lied, dass woanders in der Selbstverständlichkeit des Alltags ertränkt wird. Das Lied der Zeit. Hier wird die Ewigkeit gemessen.

Die Küche: Herd, Spüle, Teewand, ein langer Eichentisch an dem zehn Menschen zusammen speisen könnten. Zur Zeit ist nur Platz für unsere Teemugs da. Alles andere ist bedeckt mit etwas, was gestern, oder am Tag zuvor wichtig war. Zeitung, Korken, Käse, Riemen, Axt, Kerzenstummel, Flaschen, Wurst, etwas Schimmel, Bücher, Teller und Töpfe, ab und zu ein erkennbarer Essensrest. Der Tee hat Weltklasse. Plötzlich verstummt unsere Unterhaltung. Russischer Kuckuck, japanischer Gong und bakambe-nkobo Klog, Silberglocken, ja gar Dudelsack, sie alle nehmen zur gleichen Zeit das Wort an und haben gleich viel zu sagen. Es ist fünf Uhr sagen sie. So schnell sie sich gemeldet haben, so schnell verstummen sie wieder und ticken weiter als wenn nichts gewesen wäre.

Heute staune ich, wie tief ihr Gesang in meine Wachsplatte geschnitten hat: „Achtung, Sie vergeht unbemerkt!“ Schon seit zwei Stunden sitzen wir da und die meiste Zeit habe natürlich ich geredet. Von meinen Sehnsüchten, von den Plänen. Opitz dagegen hat wenig gesagt, aber das, was ihm wichtig war, hat er mit seiner Bärenbrust unmissverständlich gebasst:

Ich war fünfundzwanzig Jahre lang Hochseekapitän. Alles was ich brauchte wurde mir gebracht, serviert, ausgezogen. Ich habe mich nie um mein eigenes Leben gekümmert. Ja, ich hatte Geld wie Heu und konnte an einem Abend das doppelte dessen verpulvern, was einer meiner Matrosen in einem Monat verdient hat. Sie haben aber ihr Zeug selber gewaschen wenn’s dreckig war. Ich dagegen habe immer im Morgen gelebt, denn da wo ich bereits war, war alles organisiert, bedacht, zu Ende gelebt. Ich habe nur im Morgen denken dürfen. An mir war die Verantwortung, dass jede nächste Meile stimmt. Dass der angesteuerte Hafen noch da ist. Man dachte, ich sei verrückt, aber ich bin einfach ausgestiegen. Habe meiner Mutter ein Haus gebaut. Es war zu spät, sie ist gestorben. Die Einsamkeit hat mich erobert. Meine Frau war schon seit Jahren weg. Schafe habe ich gezüchtet. Erfolgreich ihre gutmütige Treue verkauft. Zehn Jahre lang. Dann wurden mir Menschen wieder wichtig. Ihre Träume, ihre Sehnsüchte und Ängste. Ich wurde Kunsthändler. Das Milieu war verdorben. Zehn Jahre habe ich gebraucht um durch zu blicken. Jetzt bin ich achtundsiebzig und mache Holz. Kaminholz. Im Nächsten Monat fahre ich mit meinem Wohnmobil los.

„Wohin?“ – ich hoffe immer noch auf das unmissverständliche Erfolgsrezept.
Ich bekomme es: „Oben an der Kreuzung der Straße biege ich ab. Ich weiß nicht wohin. Vielleicht nach rechts und dann sehe ich den portugiesischen Atlantik. Oder aber links und atme bald die Nadelholzluft der Norwegischen Fjorde. Ich weiß es nicht. Und ich will es nicht wissen. Ich habe bereits in jeder Ecke meines Lebens gelebt. Immer wenn es anfing sich trüb anzufühlen, habe ich es verändert…“

Seine Pranke hängt ruhig von der Tischkante. Seine Edelsteinaugen beobachten mich unter den weißen Augenbrauen. Zwei Stunden Matschlauf in der Dunkelheit, den Armutsbach entlang, stehen mir noch bevor. Ich verabschiede mich und bekomme eine Ziegenkeule aus der Tiefkühltruhe als Geschenk.

Wohin er oben an der Straße abgebogen ist? Ob er je wieder in die Eifel zurückgekehrt ist? Wegen dem Herbst?

Die Zigeuner meiner alten Heimat sagen:
„Das Leben, altes Brüderchen, ist wie Eiskrem! Ob du daran leckst, oder nicht, es schmilzt weiter.“
02.2014, Guadeloupe

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