EIN SEGELTÖRN am LA POINTE DU RAZ – dem KAP HORN EUROPAS
„Qui voit Sein, voit sa fin“, „Wer Sein sieht, der sieht sein Ende…“, so heißt es nicht gerade ermutigend in der Sprache der französischen Fischer hier in den Häfen an der berüchtigten Westspitze der Bretagne, etwa 30 Seemeilen südwestlich von Brest.
In Audierne-St.Evette, ca. 6 sm östlich der Passage zwischen der Ile de Sein und dem lanzenartigen, felsigen Kap der Pointe du Raz liegen wir in einer kleiner Bucht an einer Boje in Lauerstellung, um den optimalen Zeitpunkt der Tide zur Durchquerung dieser von Seglern und Fischern gefürchteten Durchfahrt abzuwarten. Tide, das ist hier das Zauberwort, denn „Wind gegen Strom“ bedeutet Hexenkessel. ACHT Meter Tidenhub bedeutet gewaltige Strömungen, gefährliche Wirbel zwischen Küste, vorgelagerten Inseln und Klippen. Eine feindliche Gegend für Segler und Fischer, die hier abkürzen wollen, um ein wenig schneller den schützenden Hafen zu erreichen, denn die Alternative ist ein Umweg von 40 sm aussen herum um die „Chaussée de Sein“, wie die 1000 Steine sich westlich der ILE DE SEIN verharmlosend genannt wird.
Eine „Chaussée“ auf der bis in die 60er Jahre, als Radar noch nicht alltäglich war, ein gewaltiger Schiffsfriedhof jedes Jahr stetig Zuwachs bekam. Neben des ISLES OF SCILLY und LANDS END vor CORNWALL ist am POINTE DU RAZ sicherlich einer der größte Schiffsfriedhöfe der Welt.
HERAUSFORDERUNGEN
Zu den navigatorischen Herausforderungen durch die Tide ist Nebel der Zweite Feind an der Westspitze von Frankreich, 30% Nebelwahrscheinlichkeit selbst in den Sommermonaten, gelten als normal. Das Radar ist hier unerläßlich, denn Beidrehen, Abwarten, bis der Nebel sich lichtet, kann tagelang dauern. Zudem ist bekanntlich der Nordatlantik immer für eine Überraschung gut, wenn es z.B. um die Entstehung von Tiefdruckgebieten sogar im Sommer geht. Segler, Fischer und Seeleute an der französischen und englischen Westküste lernen dies bereits im Kindergarten.
Unser Törn begann eigentlich schon in Paris am Gare Montparnasse, denn nur wenige Minuten nach dem Start des TGV-Hochgeschwindigkeitszugs in Richtung Vannes (in gut 3 Std. am Atlantik!) liegt der erste Leuchtturm an Steuerbord querab, am Pariser Fischmarkt. In einer Seglernation ist eben alles möglich, in diesem Fall ein originalgetreuer Leuchtturm als Wegweiser zum Fischmarkt für bretonische Fische.
Nur gute 3 Stunden später der Begrüßungs-Pastis an Bord der SV GWENAVEL unter südbretonischer Sonne im Stadthafen von Vannes, es ist April. Die HR 39 hat hier am GOLF DU MORBIHAN ihren Liegeplatz. Die für Nordatlantikfahrt ausgerüstete Hallberg-Rassy 39 mit Skipper und Eigner Wilfried wird uns entlang der südbretonischen Küste durch des Teufels Nadelöhr „La Pointe du Raz“ bis in die Bucht von Brest bringen.
„Wasser und Brot“ der Navigation werden auf dieser Reise vor allem die Gezeitentafeln und der Stromatlas für Westfrankreich sein, beides ist auch in englischer Sprache an Bord. Und wer die Fachbegriffe auch auf Französisch beherrscht, dem steht der „Almanac du Marin Breton“ zur Verfügung, wo auch zu den kleinsten Häfen noch Detailinformationen zu finden sind. Hingegen was die Ernährung betrifft, so wird „Wasser und Brot“ offensichtlich durch Muscadet, Austern und Langoustines ersetzt, zumindest sieht es in den Stauräumen der Pantry danach aus.
GOLFE DUE MORBIHAN
Der Golfe du Morbihan ähnelt mancherorts ein wenig der ostschwedischen Schärenküste, mit dem Unterschied, dass bei 5 Metern Tidenhub zur Springzeit in den Passagen zwischen den Inseln bis zu 8 Knoten Strom setzen. Doch selbst bei 7 Windstärken wie wir sie momentan von Nordwesten in Böen haben, kann sich keine hohe Welle aufbauen, dazu sind die Wasserflächen zu klein. Und so nutzt Wilfried die Zeit, der Crew die englischen und französischen Gezeitenunterlagen zu erklären.
Wildwasserähnliche Fahrt im Golfausgang bei Port Navalo; zwei Tage nach Vollmond sind die Gezeiten ausgeprägter und verursachen entsprechenden Strom. Die Ausprägung der Tide wird in Frankreich in Koeffizienten zwischen 0 und 120 ausgedrückt, wobei 120 das Maximum bedeutet (maximale Springzeit), wenn Sonne, Mond und Erde etwa auf einer geraden Linie liegen. Bei den Engländern ist dies beim Niedrigwasser die „lowest astronomical Tide“, was dem Kartenniveau hier entspricht.
Bei Koeffizient 112 und etwa 5m Tidenhub lutscht uns der Strom förmlich aus dem Golf heraus und so kommen wir mit der Ebbe bis Le Palais, dem Fährhafen der bei Biskaya-Seglern beliebt-bekannten Insel BELLE-ILE. Am nächsten Tag hat der Wind auf der Vorderseite eines herannahenden Tiefs zurück auf Südwest gedreht und so können wir ohne zu kreuzen bei halbem Wind Kurs auf die GLEÉNANS ISLES südlich von CONCARNNEAU anlegen. Tiefziehende Nimbostratusbewölkung, leichter Nieselregen, 4-5 Bft von SW, See ca. 1,5 m, Bretagne-Wetter, wie es den Vorurteilen entspricht.
LE GUILVINEC
Abends in Le Guilvinec am Steg sind die 4 Dutzend Austern bei Baguette mit salziger Butter und einem kühlen Muscadet schnell von der dreiköpfigen Besatzung vernichtet und man beginnt zu rechnen: 35 Seemeilen bis Audierne, 40 Seemeilen bis ins „Raz“. So nennen Eingeweihte die gefürchtete Meerenge zwischen der Pointe du Raz und der nur 2 Meilen vorgelagerten, von Stürmen flachgehaltenen Ile de Sein. „Raz“ ist keltisch und bedeutet soviel wie „strömungsreiche, gefährliche Passage vor einem Kap“. Dass wir vor dem Land der Kelten segeln, merken wir nicht nur an den Namen einiger Felsen auf der Seekarte wie „Le Menhir“, sondern auch an der Dudelsackmusik die aus dem offenen Fenster einer Fischerkneipe herüberschallt. Es ist auch das Land des 1999 in der Irischen See ertrunkenen französischen Segelhelden Eric Tabarly, dem mit seiner Pen Duik im Segelsport auf Transatlantikregatten gelang, was der französischen Marine jahrhundertelang verwehrt blieb: Die Engländer auf See zu schlagen.
Ein weiterer Segeltag, dann lauert das Raz: Koeffizient 85, West 5, kräftige Regenböen wechseln mit Cumulustürmen und strahlend blauem Himmel. Der Wetterbericht von CROSS Etel, der die gesamte Küste abdeckenden Küstenwache, verheißt nichts Böses, spricht lediglich von „mer agitée“, bewegter See.
Die Ebbe trägt uns bis zur Pointe de Penmarc’h, wo bezeichnenderweise neben dem Leuchtturm die Kirche nach Westen weder Fenster, noch Türen hat … Gestern Abend in der Kneipe hing ein Foto an der Wand von einer Welle, die die halbe Kirche in Gischt verschwinden ließ. Ein Winterfoto, wie uns der Wirt beruhigend erklärte. Aber mit dem Raz sollen wir nicht spaßen, meint er. „Ruft lieber vorher die Marinestation auf Kanal 9 oben auf dem Kap an und fragt nach dem geeigneten Zeitpunkt, durchs Raz zu gehen“ rät er uns. Bei Wind gegen Strom baut sich schon bei 5 Bft. eine steile, brechende See von bis zu 7 m Höhe auf wenn der Mond voll oder neu ist. Da sollten auch größere Yachten lieber in St. Evette bei Audierne an der Boje in Wartestellung bleiben bis der Strom kentert oder der Wind sich legt. Doch dass der Wind sich legt, kann hier lange dauern. Und wenn der Wind aus nördlichen Richtungen kommt, hat der Segler praktisch keine Chance von Süden nach Norden durchs Raz zu segeln, denn nur mit dem Flutstrom geht es nach Norden und nur mit dem Ebbstrom nach Süden. Gegen den Strom segelnd und dann auch noch kreuzend hat auch die schnellste Yacht hier keine Chance.
Hinter Penmarc’h lässt der Wind nach und so können wir uns für diesen Tag die Raz-Passage abschminken. Der Tidenstrom würde längst gekentert sein wenn wir in etwa 6 Stunden im Raz wären und dann hätten wir Wind gegen Strom. Also beschließen wir, dem Rat des Wirts aus Guilvinec (und des Seehandbuchs!) zu folgen und schlafen eine Nacht an der Boje auf Warteposition in St. Evette, 5 sm östlich des Raz. Wir sind nicht die einzigen: Zwei französische Yachten und ein Engländer haben sich wie wir entschieden.
Nach Gezeitentafeln herrscht früh morgens gegen 6.30 Uhr Stillwasser im Raz bevor die neue Flut einsetzt. Das wäre ideal für die Passage, jedoch eine Stunde vor Sonnenaufgang. Egal, die Seekarte zeigt Sektorenfeuer für La Vieille, La Plate und Tévénnec, den drei Leuchtfeuern, die es den Schiffen auch bei Nacht mit ihren Leitsektoren ermöglichen, sich von den Steinen frei zu halten. Also Wecker auf 6.00 Uhr, 6.30 Boje loswerfen und los geht’s. Geht nicht! An der Boje war wohl noch eine Tripleine, die wir in der Dunkelheit nicht gesehen hatten, und so geschieht nach Murphy’s Law genau das, was wir jetzt wirklich nicht gebrauchen können: Tauwerk im Prop, der Motor wird abgewürgt. Merde!!! Wassertemperatur ca. 14°C, was hilfts! Tauchjacke an, Brotmesser und Tauchlampe her, unser Skipper schneidet die Welle frei.
Eine Viertelstunde später sind wir auf Kurs ins Raz mit einer halben Meile Parallelabstand zur wild zerklüfteten Steilküste der Sizun-Halbinsel, an deren Ende die Pointe du Raz wie eine Lanzenspitze nach Westen zeigt. La Vieille, der Leuchtturm, dessen Name früher bei den bretonischen Leuchttürmwärtern Schaudern erzeugte, weil sie im Winter manchmal erst nach 8 Wochen abgelöst werden konnten, zeigt uns mit seinem weißen Leitsektor den Weg. Der Seegang nimmt langsam zu, wird steiler und unregelmäßiger, denn der Südwestwind steht mit 5 Beaufort quer zum Strom. Fahrt nach Logge 6 Knoten, nach GPS anfangs 7,5 Knoten, dann 8,5 und schließlich 9 Knoten. Wir fühlen uns wie in die Passage hineingesaugt. Mit der im Osten aufgehenden Sonne werden aus den schwarzen Scherenschnittkonturen der Küste zerfurchte, markante Felsen. Vor dem Kap, eine halbe Meile vor uns ist das Wasser weiß von brechender See…, Steckschotten in den Niedergang, Lifebelts werden vorsichtshalber schon mal angelegt. Weiter draußen auf See ist es etwas ruhiger, und so vergrößern wir unseren Abstand zur Küste, Ruder backbord, 30 ° gegenhalten, um den Stromeinfluß zu kompensieren. Dünung läuft quer zur Windsee, wird an der Steilküste zurückgeworfen und läuft gegen den Tidenstrom. In grober, wirr durcheinanderlaufender Kreuzsee verwandelt sich GWENAVEL in einen bockigen Gaul; Die Leuchttürme La Vieille und La Plate ziehen an Steuerbord wie von Geisterhand bewegt vorbei, das GPS zeigt 11,6 Knoten über Grund, das sind mindestens 5 Knoten Strom! Eine viertel Meile an Steuerbord, mitten zwischen den Steinen in der Trouziard-Passage motort ein einheimischer Fischer gegen den Strom und fischt wohl auf Wolfsbarsch mit der Schleppangel, während sein Boot 30 Grad nach beiden Seiten rollt.
Nach etwa 20 Minuten ist der Ritt vorbei. Ile de Sein, eine Meile an Backbord, schützt uns vor der von Westen heranrollenden Dünung und so können wir sorglos die Peilung zwischen Kirchturm und Bake suchen, die uns die Ansteuerung in den Hafen von Sein ermöglicht. Hafen? Eher eine Bucht mit schützender Mole, ein Anleger für zwei, drei Fischer und die kleine Fähre, die – wenn das Wetter es erlaubt – die Post, ein paar Paletten mit Baumaterial, Bierfässern und im Sommer auch etliche Touristen vom Festland von Audierne herüberbringt. Wir ankern auf 5 m Wassertiefe, nachdem wir mittels 12er –Regel und Tidenkalender ausgerechnet haben, dass jetzt, zwei Stunden nach Niedrigwasser noch gut 6m auflaufen werden, aber dann wieder bis zum Abend etwa 8m mit der Ebbe ablaufen.
Ohne Beiboot geht hier gar nichts; Schwimmponton? Ein Fremdwort.
Im „Cormoran Borgne“, dem blinden Kormoran, wie die sympathische Fischerkneipe direkt neben der Seenotrettungsstation sich nennt, gibt’s nicht nur das langersehnte kühle Bier, sondern der Wirt Yvon hat auch die Tipps, wo wir für unser Abendessen die Taschenkrebse bekommen, von denen unser Skipper schon seit Tagen schwärmt. Und es bleibt nicht bei Taschenkrebsen: Drei Hummer und ein Kilo Wellhornschnecken wandern ebenfalls in den Kochtopf. Dazu selbstgebackenes Brot, selbstgemachte Mayonnaise und – schließlich segelt man nicht jeden Tag durchs Raz de Sein – einen gut gekühlten Sancerre (oder waren es zwei?).
Der nächste Morgen beweist, dass die Bretagne keineswegs ständig stürmisch und verregnet ist: Strahlend-blauer Himmel, NW 3, Rückseitenwetter, das Tief ist durchgezogen, ideal für einen Inselspaziergang. Die Gassen zwischen den Häusern am Hafen sind gerade mal so breit, dass man „ ein Fass hindurchrollen kann“, so erklärt es uns Yvonnick, der Inselpfarrer, mit dem wir schon gestern Abend im blinden Kormoran ein Bier getrunken hatten. Die Häuser schützen sich gegenseitig vor dem Wind, der hier im Winter immer mal wieder mit mehr als 200 km/h alles wegfetzt, was nicht festgebunden wurde. Yvonnick erzählt uns auch von seinem Urgroßvater, der auch schon Inselpfarrer war, dessen Möbel aus Wrackteilen gebaut waren, und es heißt, er habe damals in mageren Zeiten von der Kanzel der Herrgott darum gebeten, endlich wieder ein Schiff mit wertvoller Ladung auf die Felsen von Sein zu schicken, damit die Armut der Inselbevölkerung gemildert würde. Und wenn der liebe Gott das Schiff nicht schickte, dann half man eben etwas nach, zündete Feuer an, die den ortsunkundigen Navigator in die Irre und ins Verderben locken sollten.
Von navigatorischen Problemen haben wir in der letzten Woche reichlich gehört und gesehen und so nutzen wir den leichten Nordwest und die Nachmittagsflut, um die letzten 30 Seemeilen bis Brest hinter uns zu bringen. Zuvor nutzen wir jedoch die Gunst der Stunde, das „französische Kap Horn“ noch einmal bei ruhigem Wetter zu fotografieren. Und als dazu auch noch bei strahlender Sonne eine kleine Schule von Delphinen direkt vor dem Bug erscheint, will niemand an Bord so richtig an den Spruch „Qui voit Sein, voit sa fin“ glauben.
Über das Heck peilen wir ein paar Stunden später noch einmal den Leuchtturm von Sein vor der untergehenden Sonne während im Osten in der Dunkelheit die ersten Lichter von Brest an der Kimm erscheinen.
Mit herzlichen Grüßen aus Kerhouet
Wilfried Krusekopf WEITERLESEN oder SEGELN>