GOODBYE FESTLAND – WILLKOMMEN AUF DEN AZOREN
Wenn ein Schweizer seine Heimat zwischen den Bergen verläßt, kann man sicher sein, dass die Gründe mit Wasser zusammenhängen, nicht unbedingt jenes aus dem Wasserhahn, sondern eher einer zusammenhängenden Fläche, soweit das Auge reicht. Dort wollte Thomas baden und ganz andere Sachen machen, zum Beispiel segeln! Ist es nicht eigenartig, dass in der Schweiz eine umfangreiche Hochseeflotte angebunden ist, zumindest virtuell, nicht an den schweizer Stegen? Klar wissen wir, dass die Gründe auch durch finanzielle Ressourcen begünstigt sind, denn ohne Moos ist auf dem Wasser nirgendwo was los.
Jedenfalls hat Thomas nach dem Ende seiner Karriere an Land, zwischen Bergen eingeklemmt, seine sieben Sachen in verschiedene Kartons gepackt und ist ins Tulpen Land umgezogen, das wir auch mit Windmühlen und Meisje´s mit weissen Stulpenhüten sublimieren. Dort hat er sich als erstes einen schwimmenden Untersatz gekauft, zunächst eine Motorquatze, später einen roten Doppelmaster mit Gardinen, solide gebaut, man hätte andere Schiffe damit zu den Fischen schicken können. Hat er aber nicht, hat seine Manöver stets „sachte“ zu ende gebracht, denn kernig gerammt ist nicht unbedingt besser, als lahm anzulegen.
Das Schiff wurde zu klein, die Träume hingegen grösser, was genau der Auslöser gewesen ist, den schwimmenden Untersatz noch einmal auszutauschen, das kann ich nur ahnen. Jedenfalls wurde die Camina, eine stäbige Contest 38S, bald zu einem richtigen Zuhause für den Mann.
Es kam, wie es kommen musste, wie es immer kommt, wenn die Lebenszeit drängt und im Kopf der Segen schief gehängt. Es sollte auf die grausame See zu gehen, ein wenig mehr südlich, der Sonne entgegen, eine Flucht vor dem Trubel an Land, mit besserer Luft zum Atmen, was doppeldeutig verstanden werden kann. Kurz, zumindest wenn die Lebensneugierde noch nicht eingeschlafen ist. Thomas ist genau so ein Mann. Hier die Metamorphose von Traum zur Wirklichkeit, von Thomas selbst verfasst.
SEGELN ALS KULTUR – UND ERLEBNISREISE
Natürlich träumte ich in jungen Jahren vom grossen Törn, vielleicht sogar rundherum. Teile davon habe ich erlebt. Die Realität hat sich nicht immer mit meinen Vorstellungen gedeckt, trotz Palmen, Strände, Bars und Drinks vom Feinsten.
Vor einigen Jahren entschied ich mich für das dauerhafte Leben an Bord. Natürlich auf dem Atlantik auch segeln und das als Erlebnis zu geniessen. Ich beschaffte mir ein komfortables Schiff, nicht zu gross, nicht zu klein und Single-Hand zu bedienen, dennoch aber mit soviel Platz, dass ich mich darin absolut wohl fühle. Meine Wahl viel auf eine Contest 38s Ketch, Baujahr 1985. Sie war in sehr gutem Zustand, auch häufig im Blauwasser unterwegs. Total gepflegt, mit zentralem Cockpit, einer geräumigen Achterkajüte mit Stehhöhe usw. Ein grosser Refit war aber nötig und ich investierte nochmals etwa die Summe des Kaufpreises.
Mein Entschluss nach den Azoren zu segeln wurde durch einen Freund zusätzlich animiert. Letzten Juli ging´s los, zusammen mit meinem Sohn, der mich nicht alleine dieser Reise machen lassen wollte.
Über Den Helder in die Nordsee, durch den Kanal und erster Zwischenstopp in Calais. Danach direkt nach Cherbourg. Von dort aus wollten wir die Azoren direkt ansteuern, eine Motorpanne verhindert das und somit wurde diese in A Coruna behoben. Dann ging´s wieder hinaus Kurs Azoren. 854 Nm in knapp 7 Tagen, 6 Nächten. Herrliches Segeln.
Im kleinen Hafen Vila Franca do campo, auf der Hauptinsel Sao Miguel, fanden wir den ersten Anleger. Schon nach zwei Tage fühlte ich mich hier pudelwohl. Ein Gemeindehafen, eigentlich nicht für Passanten bestimmt. Trotzdem schaffte es die Hafenmeisterin mir zuerst einen mehrmonatigen, kurz darauf sogar einen unbeschränkt gültigen Vertrag anzubieten. Sogar längsseits liegen, was das täglich Leben an Bord und Land ungemein erleichtert. Schöne, total unerwartete Geste und erst noch zum Lokaltarif.
Meine ersten Vorstellungen von diesen Inseln wurde schon bald weit übertroffen. Eine Dichte an Natur, Flora, Fauna, die beeindruckende Geschichte und die immer noch spürbaren Vulkanaktivitäten begeistern mich. Und ganz speziell die “Eingeborenen”. Soviel Freundlichkeit, Offenheit und Hilfsbereitschaft habe ich noch nie so direkt irgendwo erlebt.
Mein Entschluss stand schnell fest. Hier werde ich bleiben, mindestens solange wie meine physischen Möglichkeiten – mit 73 Jahren ja auch absehbar beschränkt – es erlauben. Nach 8 Monaten habe ich die Aufenthaltsbewilligung, eine Steuernummer und alles andere was die hier relativ einfache Bürokratie erfordert. Sogar eine Krankenkasse, die für Pensionierte sogar die Grundversicherung kostenlos regelt.
Segeln, Entdecken, Erfahren und das im „Schneckentempo“:
Diese Inseln bieten mir alles. Meine generell Neugierde bedienen, mit Menschen in persönlichen Kontakt zu treten, Wandern, die Walfische vor der „Haustüre“ beobachten, in vulkanischen Quellen oder im Atlantik baden und schwimmen, schnorcheln um die zauberhafte Korallen und Unterwasserwelt zu beobachten. Alles schön langsam, ausführlich ohne jeglichen Zeitdruck ist mein Ziel.
UND SEGELN?
Klar auch das. Aber ohne jeglichen „Leistungsdruck“ oder um mir oder anderen etwas zu beweisen. Die nächste Insel östlich ist Santa Maria einen Tagestörn entfernt. Die zentrale Inselgruppe Faial, Pico, Sao Jorge, Terceira sind in 2 Tagestörns locker zu schaffen. Und um Graciosa zu besuchen braucht es einen halben Tag mehr.
Die beiden westlichsten Inseln Flores und Corvo sind direkt in 4 Tagen oder ab den zentralen Inseln in weiteren knapp 2 Tagen erreichbar.
Jede dieser Inseln hat ihren eigenen Charakter, eigene Topografie und auch Flora und Fauna. Allen ist aber gemeinsam, dass sie viel Zeit erfordern um sie wirklich kennen lernen und begreifen zu können. Genau das ist es was ich will! Genau dafür will ich Jahre aufwenden.
Wer die Azoren nicht kennt, findet auf YouTube endlos wunderbare Videos, zu allen Themen die ich erwähnte.
Das Klima ist milde. Einen Winter mit Nebel, Schneematsch und Kälte gibt es hier nicht. Die mittleren Temperaturen liegen von Ende Herbst bis Mitte Frühling bei 14-16 Grad, Wassertemperatur ebenfalls je nachdem wie sich der Golfstrom gerade verhält. Sonnentage in dieser Jahreszeit sind auch mit über 20 Grad nicht selten.
Ende Frühling bis Ende September steigen die Temperaturen im Mittel auf 24-26 Grad, auch mal 30+ werden erreicht.
Allen Jahreszeiten gemeinsam ist der häufig vorhandene Wind. Im der Jahreswechselzeit oftmals kräftig, auch mal stürmisch. Regnen kann es oft, in Abwechslung mit total blauen Himmel, täglich auch gut und gerne 2 Mal pro Tag. Ideal für meinen Geschmack.
Sollte es mich dann eben auch mal für einen längeren Törn im Hintern jucken, liegen Madeira, auch die Kanarischen Inseln in Reichweite. Aber eigentlich will ich dort gar nicht unbedingt hin. Denn die Charterbetriebe dominieren die Stege, Städtchen und Partys. Und Bierkästen auf den Stegen ver- treiben mich blitzschnell. Auch die sich ständig wiederholenden Segler (Latein) Geschichten, der oft so stolzen Skipper sind im Überdruss gehört. Brauche ich nicht.
Die Segler Community hier auf den Azoren ist anders. Jeder der hier ankommt hat mindestens 1000 Nm im Kielwasser, vom amerikanischen Kontinent her gut das Doppelte. Charterflotten sind kaum anzutreffen. Es sind meistens Idealisten, oftmals Paare, die sich hierher auf Kurs gemacht haben. Darauf sind die lokalen Betriebe eingerichtet. Für alle grösseren wie kleineren Unterhaltsarbeiten gibt es qualifizierte Kleinunternehmen. Diese leisten absolute Qualitätsarbeit zu sogar sehr günstigen Preisen. Aber Zeit muss man sich dafür nehmen. Erstens müssen Teile eben oftmals vom Kontinent beschafft, gar eingeflogen werden. Gestresst wird hier nicht und ein zugesagter Termin kann auch mal eine Woche später erst stattfinden. Niemand stört sich daran und das entschleunigt den eigenen Lebensrhythmus auf gesunde Art.
Wer immer noch glaubt Portugal, oder diese Inselgruppen, seien gegenüber Deutschland, Holland etc., rückständig irrt gewaltig. Hier findet man alles. In der „Hauptstadt“ Ponta Delgada, mit knapp über 60’000 Einwohnern, findet auch quirliges Stadtleben seinen Platz. Von den noblen Automarken aus den USA und Europa sind alle hier vertreten. Die Menschen sind gebildet, die englische Sprache ist allermeistens überall anzuwenden. Das kulturelle Angebot ist aussergewöhnlich reichhaltig. Von klassischen Konzerten, Jazz und Popfestivals bis zur Folklore ist alles zu geniessen und Feste feiern, dass können die Menschen hier. Vor allem von Ende Frühling bis Beginn Herbst ist ständig was los. Und als Expat ist man sofort eingebunden.
Infrastruktur, Gesundheitswesen ist auf kontinentalem Niveau. Flugverbindungen nach und von fast allen Inseln, nach Lissabon oder gar interkontinental, sind kein Problem. Alles hier ist klein, schick und topmodern.
Fazit: Wer Gemächlichkeit, Muse, Kultur, Natur, Geschichte, Atlantikstimmung und ein tolles Segelrevier sowie total freundliche Menschen sucht ist hier bestens aufgehoben. Eine Inselwelt zum bleiben. Mitten im Nordatlantik und so abwechslungsreich, dass niemals Inselkoller aufkommt. Man(n) muss sich nur darauf einlassen. – Aber man muss den Ballast des häuslichen, gewohnten Lebens auch mal über Bord werfen. Wer glaubt, sein gewohntes Leben einfach aufs Wasser und Bootsleben zu transformieren, wird auf der Nase landen. Dafür erhält man grosszügige Entschädigung und die heisst bei mir Freiheit, materielle Entrümpelung inbegriffen. Reduktionistisch, dennoch komfortabel zu leben und sich den Menschen zu öffnen. Das nenne ich auch Reichtum, und meine ganz persönliche Liebeserklärung an die Azoren.
15.06.2023
Thomas Rettenmund SV Camina
Nachtrag, zur etwas gekürzten Version des von Peter publizierten Beitrags. Er scheint mir mehr und mehr wichtig:
Der Atlantik, die Atlantikluft:
Was als erstes hier auffällt ist die absolute Sauberkeit des Atlantiks. Sichtweiten bis 20 m unter Wasser ? Kein Problem! Tiefblaues Wasser. Schneeweisse Wellen, die über den ganzen Atlantik gegen die vulkanische Küste und Küstenbefestigung brausen sind, ein eindrückliches Schauspiel. – Man braucht auch kein Antifouling am Unterwasserschiff! Da sind kleine Fische, 24 x 7 Tage pro Woche, am Werk und knabbern als ab, was sonst nur mit Chemie, Kupfer etc. bekämpft wird. Mein Schiff ist unter Wasser so fein und sauber wie ein Kinderpopo.
Hier gibt es auch keinen Smog. Die Nachthimmel sind unendlich klar. Natürlich, es gibt hier auch keine Industrie. Und zudem stehen alle Inseln unter einem hart durchgesetzten Umweltschutzprogramm. Einige zählen auch zum UNESCO Weltkulturerbe.
Kulinarisches, Energieversorgung, Unabhängigkeit:
Die Azoren sind bezüglich Nahrungsmittelversorgung beinahe autonom. Es gibt grosse viele, kleine Plantagen (meistens Familienbetriebe) wo Bananen (keine genormten Chiquita’s), Ananas, Früchte, Gemüse aller Arten angebaut wird. Es gibt sogar einen Familienbetrieb der den Teeanbau von exzellenter Qualität, betreut. Alles biologisch, den Kunstdünger hierher zu verfrachten wäre unsäglich teuer.
Einen täglichen Markt wo die Produzenten ihre Produkte frisch, (ohne Verfallsdatum Aufkleber) direkt und äusserst günstig anbieten. Fleisch und Milchprodukte sind hier lokal und in bester Qualität vorhanden. Ebenso – für Weinliebhaber wie mich – gibt es hier eine richtig edle Kultur und Vielfalt. Die Preise lassen manchmal meine Kinnlade auf den Tresen fallen.
Punkto elektrischer Energie sind die Azoren aktuell zu 75 % autonom. Das Ziel 100 % bis 2030 zu erreichen ist in Arbeit und soll realisiert werden. Natürlich ist hier die Hauptquelle geothermischen Ursprungs. Wasser, von allerbester Qualität, ist hier im Überfluss vorhanden. Nur Mineralölprodukte, Autos, Elektronika und alle anderen Gerätschaften, die hier nicht produziert, werden müssen per Frachtschiff importiert werden. Mangel aber gibts nicht, nur hin und wieder mal muss man die nächste Ladung eben abwarten. Diesel kostet 1.57 pro Liter und für mich – ich gestehe, ich rauche – kosten 20 Zigaretten Marlboro 4.40 EUR.
Im allegmeinen ist das Leben hier echt günstig. Der Medianwert des Netto-Einkommens der Portugiesen liegt bei ca. 1’200 EUR. Auf den Inseln sogar tiefer. Auch ist der MwSt-Satz hier mit 18 % fünf Prozent tiefer als auf dem Festland. Na, da lässt es sich mit einer schweizer Rente gut leben. Dies ist aber nie meine primäre Zielsetzung gewesen, aber eine schöne Überraschung gleichwohl.